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Der Tourist, der als Rüpel gilt (und für was er steht) Es ist eine Geschichte der Kultur


Der Rüpel-Tourist (und wofür er steht): In den Sommerferien bricht die Zeit der Milchdiebe, Falschpicknickerinnen, Blüttler an

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John Sinclair

Ein Bestiarium des helvetischen Fremdenverkehrs.

Illustration Simon Tanner / NZZ

In diesen Tagen wurde im Alpstein eine Kuh gemolken – von zwei Wanderern, die später als «Milchdiebe» durch die Medien geschleift wurden. Die Bäuerin fotografierte, wie sich die beiden Männer im steilen Gelände an die weidende Kuh lehnten und Milch in eine PET-Flasche abfüllten. «Respektlos ans Euter gegriffen» hätten sie, sagte die Bäuerin zu «FM 1 Today», das sei eine «absolute Frechheit». Der «Blick», «20 Minuten», der «Schweizer Bauer» und selbst internationale Medien berichteten. Der Appenzeller Bauernverband verurteilte das «Verhalten der Milchdiebe». Der innerrhodische Tourismusdirektor erklärte im «Tagblatt», so einen Fall habe er in fünfundzwanzig Jahren noch nicht erlebt.

Zur Heldin wurde die «empörte Bäuerin», die die jungen Wanderer in der Alphütte noch zur Rede stellen wollte, eine Absage erhielt und dazu meinte: «Wer Zeit hat, eine Kuh zu melken, der hat auch Zeit, diese paar Meter zu gehen.»

Es ist eine Heldenfigur, die sich fest etabliert hat im Schweizer Sommer: die Anklägerin aus den Alpen, die die hemmungslosen Touristen aus dem Unter- und aus dem Ausland an ihre zivilisatorischen Restreflexe erinnert.

Anklage und Kapitulation

Im Juni schrieb der Wirt des Hotels Flüela Hospiz auf Facebook: «Die Menschen werden jedes Jahr frecher und rücksichtsloser! So schlimm wie diese Saison (. . .) war es noch nie!» Seine Anklageschrift umfasst neun Punkte: Die Touristinnen und Touristen urinieren an die Hauswand oder direkt auf den Parkplatz («Frau und Mann[,] keiner ist besser»), sie parkieren auf dem Hotelparkplatz und kochen im Auto, picknicken auf der Eingangstreppe, spucken auf den Boden, rütteln nachts um zwei Uhr unangekündigt an der Tür. «Wohin wird das noch führen?», fragt der Wirt. Im «Blick» beantwortete er die Frage später selbst, indem er über die Situation auf seinem Hotelparkplatz sprach: «Jetzt spielen die Kinder dort regelmässig in Fäkalien und Abfall.»

Im Mai bereits schrieb das Wirtepaar des Berghotels Oeschinensee auf Facebook einen langen Eintrag, vorangestellt war der Spruch: «Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel anders setzen.» Das Paar beschreibt, wie sein Hotel zu einer Verpflegungsstation im Zeitalter des Massentourismus degeneriert sei: «Pöbeleien und gar Morddrohungen» hätten in den vergangenen Jahren «immer wieder zur Tagesordnung» gehört. Der Stress sei hoch, ein Arbeitstag schnell fünfzehn Stunden lang, die schlechte Google-Bewertung schwebe als Drohung immer über allem. Aus der Küchencrew verabschiedeten sich psychisch erkrankte Mitarbeiter, neue Bewerbungen kämen nicht mehr herein. Das Wirtepaar ging nach Burnouts monatelang mit einem Van auf Sinnsuche. In diesem Sommer ist das Berghotel deshalb nur noch ein Selbstbedienungsrestaurant, übernachten ist nicht mehr möglich.

Das Wirtepaar schreibt, man wolle «auf keinen Fall (. . .) verbittern, wie dies an anderen Orten mit Massentourismus passiert». Und doch liest sich sein Eintrag wie eine Kapitulationserklärung: gegenüber dem Antagonisten der Ankläger aus den Alpen, dem Gast, der zum Gegner geworden ist – zu dem, was der Boulevard seit einigen Jahren «Rüpel-Tourist» oder «Ekel-Tourist» nennt.

Ferien bedeuten im idealen Fall Entspannung, im Fall des Rüpel-Touristen bedeuten sie Enthemmung.

«Immer schamloser»

Das Bestiarium des helvetischen Fremdenverkehrs ist vielfältig besetzt:

Angefangen beim traditionsträchtigen Turnverein-Tourismus – die Turner randalieren spätestens, wenn der Hüttenwart um Mitternacht den Ausschank einstellt (Originalton: «Dann stellt uns wenigstens den Schnaps raus!»).

Oder beim FKK-Tourismus, der sich schon vor vielen Jahren vor allem in den Tessiner Seitentälern ausbreitete. Der «Blick» berichtete jahrelang fast standardmässig, etwa über die Melezza im Centovalli: «Der schärfste Fluss der Schweiz – Der Bürgermeister hat extra ein Verbotsschild aufgestellt. Aber kein Arsch kümmert sich drum.» Im Sommer 2009 berichtete ein Fischer aus Cavigliano von seinem Schock: «Auf einem Stein vergnügen sich zwei Männer und eine Frau.» Die Polizei stellte das Swinger-Paar beim Auto (und nahm es fest), aber die Touristen (70 und 69 Jahre alt) redeten sich heraus. «Wir haben uns nur die Füsse massiert.» Der betroffene Gemeindepräsident erklärte, ebenfalls im «Blick»: «Die Deutschschweizer Blüttler werden immer schamloser.»

Die vielleicht symbolhafteste Figur des Rüpel-Tourismus ist der Nacktwanderer (temporäre Selbstbezeichnung: Nacktivist). Er wurde vor Jahren bekannt durch eine intensive internationale Berichterstattung (auch in der «New York Times», im «Time»-Magazin). Die Medien überschlugen sich: Im «Tages-Anzeiger» kam ein Wädenswiler Ehepaar zu Wort, das über dem Walensee zwei «Unverhüllte» gesehen hatte, die «in der Schamgegend völlig enthaart waren». Der Pressechef von Schweiz Tourismus beruhigte zwar, der «Nacktwanderer-Markt» bleibe eine Nische, und die Nacktwanderer «sind bestimmt kein Image-Schaden für die Schweiz». Aber der Landesfähnrich des Kantons Appenzell-Innerrhoden sah sich dennoch zur Handlung gezwungen: «Aus Sorge über den Verfall der Sitten» schlug er der Landsgemeinde vor, Bussen einzuführen.

Der dünne Firnis

Symbolhaft ist die Figur des Nacktwanderers deshalb, weil er den offensichtlichen Drang vieler Touristinnen und Touristen verkörpert, in den Sommerferien die alltägliche Zivilisiertheit abzulegen.

In den Ferien soll für ein paar Wochen wegfallen, was die Gesellschaft unter anderem zusammenhält: die Gesetze des Alltags, die Pflichten des Arbeitslebens, soziale Kontrolle. Man lässt sich gehen und wird zu einem kompromisslosen Mitglied einer kompromissbasierten Gesellschaft. Ferienbedingte Regelbrüche mögen einen kathartischen Effekt haben – sie sind auch eine Warnung: Der Firnis der Zivilisation ist dünner als gedacht. Was, wenn alle gleichzeitig Ferien hätten?

Als der Wirt des Hotels Flüela Hospiz seine Anklageschrift gegen den Rüpel-Touristen auf Facebook veröffentlicht hatte, füllten sich darunter die Kommentarspalten. «Unsere Kultur. Wir haben in Europa so was von abgebaut», schreibt der Erste resigniert. Man muss nicht lange scrollen, bis sich eine kleine Gruppe auf dem Flüelapass verabredet, um ein paar Ohren in die Länge zu ziehen, oder wie einer schreibt: «Vielleicht mal ein Kübel Wasser uber de Grind.» Die Diskussion über die Enthemmung: sofort enthemmt. Es ist Sommer in der Schweiz.

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Author: Johnny Zimmerman

Last Updated: 1700247603

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Name: Johnny Zimmerman

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